I. Gerichtspraxis
Gesetzlicher Gebührenrahmen gemäß § 14 I RVG; RVG VV Nr. 2300 (Urteil LG Köln, AZ 20 O 167/06 vom 12.09.2007) für Verkehrsunfallregulierung
Das Landgericht Köln hat mit einer Entscheidung unter den Anwälten im Rheinland für Erheiterung gesorgt, die nunmehr zutreffend von Herrn RA Herbert P. Schons, Vorsitzender des Gebührenausschusses der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf mit der Bemerkung: „Kölle Alaaf!“ karikiert worden ist.
In der Sache selbst ging es um einen Verkehrsunfall mit Personenschaden mit einem Streitwert von 82.760,- Euro, in denen das Landgericht dem bearbeitenden Rechtsanwalt eine 1,3 RVG Geschäftsgebühr zubilligte, anstatt des vom Anwalt beanspruchten Gebührensatzes von 2,5 RVG.
In der Urteilsbegründung heißt es u.a., es handele sich um einen ganz typischen Unfall mit Personenschaden mit den regelmässig in solchen Fällen vorgegebenen Themenkomplexen Schmerzensgeld, immaterieller Vorbehalt, Haushaltsführungsschaden, Verdienstausfall, die jedem Juristen geläufig sein sollten. Insoweit sei auch die jeweils zu treffende Recherche vorprogrammiert: Aktenstudium, das Lesen von Arztberichten und Gutachten, Vorlage von Gehaltsabrechnungen. Regelmässig sei auch ein solcher Unfall mit Dauerfolgen für den Verletzten mit finanziellen Problemen verbunden. Auch die Tatsache, dass die Prozessbevollmächtigten Spezialkenntnisse haben, rechtfertige keine Erhöhung des Satzes, vielmehr ermögliche das Fachwissen eine schnellere und effektivere Bearbeitung der Materie, auch das Haftungsrisiko dürfte sich bei vorhandenen Spezialkenntnissen verringern.
Mit anderen Worten: Nach Auffassung der Kölner Richter handelt es sich bei Unfällen mit Personenschäden, bei denen Schmerzensgeld, immaterieller Vorbehalt, erhebliche materielle Schadenpositionen abzuwickeln sind, um sog. durchschnittliche Unfälle, die jedem Anwalt geläufig sein müssten und problemlos abzuwickeln. Offenbar ist dem Gericht nicht bekannt, dass es bei einem ‚durchschnittlichen Verkehrsunfall’ gerade (Gott sei Dank) keine Verletzten gibt.
Es sei nochmals auf die Bemessungskriterien des § 14 I RVG hingewiesen: Danach steht dem Rechtsanwalt das Recht zu, bei der Anwendung eines gesetzlichen Gebührenrahmens die ihm zustehende Einzelfallgebühr mit Verbindlichkeit für den Auftraggeber zu bestimmen.
Des weiteren folgt aus § 14 I RVG, dass eine vom dem Rechtsanwalt festgesetzte Gebühr verbindlich ist, es sei denn, sie wäre unbillig. Die Fragestellung lautet somit, ob die von dem Rechtsanwalt bestimmte Vergütung nicht der Billigkeit entspricht.
Der Rechtsanwalt kann die ihm zustehende Vergütung nicht frei bestimmen, sondern unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles nach billigem Ermessen.
§ 14 I RVG gibt ihm beispielhaft gewisse Ermessenskriterien an die Hand, nämlich Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, wobei auch Spezialkenntnisse des Anwalts bei der Gebührenhöhe Berücksichtigung finden sollen, die Bedeutung des Falles sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Mandanten.
Als fünftes Kriterium kann nach § 14 I 2 RVG ein besonderes Haftungsrisiko bei der Bemessung herangezogen werden. Bei Rahmengebühren, die sich nicht nach dem Gegenstandswert richten, ist das Haftungsrisiko stets zu berücksichtigen.
Durch diese Bemessungskriterien wird andererseits der Überprüfungsspielraum abgesteckt, der im Falle von Meinungsverschiedenheiten dem Gericht oder der zuständigen Behörde zusteht.
Als Ermessensentscheidung ist die Bestimmung der Einzelfallgebühr durch den Rechtsanwalt nur daraufhin überprüfbar, ob er von falschen tatsächlichen Grundlagen ausgegangen ist, ob er den Ermessensspielraum überschritten oder gar sein Ermessen missbraucht hat (allg. Meinung, vgl. z.B. LG Aachen, AnwBl. 1983,235)
Nur dann, wenn die angesetzte Gebühr die in vergleichbaren Fällen angemessene deutlich übersteigt, ist sie unbillig und nicht verbindlich (AG Helmstedt, AnwBl. 1984, 275).
Bei der Beurteilung der Frage, ob eine ‚deutliche’ Überschreitung vorliegt, wird eine Toleranzgrenze von 20 % (vgl. auch LG Aachen, AnwBl. 1983, 235, 20 – 25 %) gezogen. Es ist aber bereits in der Diskussion, diesen Toleranzrahmen auf bis zu 30 % zu erweitern, nachdem das RVG bei einigen Rahmengebühren (vgl. etwa Nr. 2400 VV RVG a.F., 2300 VV RVG n.F.) eine erhebliche Erweiterung des Gebührenrahmens vorgenommen hat.
Wird die vorgenannte Toleranzgrenze jedenfalls überschritten, hat eine anderweitige Festsetzung der angemessenen Gebühr zu erfolgen.
In der täglichen Abrechnungspraxis hat sich seit vielen Jahren die Mittelgebühr als eine Art Richtlinie bewährt. Hierbei handelt es sich um das rechnerische Mittel aus der Summe der Mindest- und Höchstgebühr.
Die Mittelgebühr ist stets angemessen, wenn anhand der Bemessungskriterien des § 14 RVG eine durchschnittliche Fallgestaltung anzunehmen ist; weichen einer oder mehrere der nach § 14 RVG maßgeblichen Umstände von den Durchschnittsgegebenheiten deutlich ab, so kann eine Anhebung oder Senkung der Mittelgebühr gerechtfertigt sein.
Will ein Rechtsanwalt eine höhere Gebühr als die Mittelgebühr in Rechnung stellen, so ist er für die Umstände auch beweispflichtig, mit denen er eine höhere Gebühr rechtfertigen will; umgekehrt trifft die Darlegungs- bzw. Beweislast denjenigen, der dem Rechtsanwalt lediglich eine Gebühr unterhalt der Mittelgebühr zubilligen möchte.
In einem bemerkenswerten Aufsatz (nachzulesen in NJW 21/2006, Seiten 1471 ff., mit dem Titel „Die angemessene Rahmengebühr nach dem RVG“) nimmt Herr Ministerialrat Klaus Otto, der maßgeblich an der Gesetzesfassung des RVG mitgewirkt hat, eingehend zu den Bemessungskriterien des § 14 I RVG Stellung genommen. Er kommt bei der Bewertung hinsichtlich des Umfanges eines durchschnittlichen Falles auf eine anwaltliche Vertretungstätigkeit von etwa drei Stunden. Den durchschnittlichen Streitwert bemisst er in Zivil- und Familiensachen mit 6.000,- Euro. Die Bestimmung des durchschnittlichen Schwierigkeitsgrades stelle sich demgegenüber wesentlich schwieriger dar. Eine Korrektur nach oben sei aber insbesondere dann angemessen, wenn besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten vorliegen.
Nachdem in einem ersten Schritt die angemessene Gebühr anhand der Kriterien ‚Umfang und Schwierigkeit’ bestimmt worden sei, so Otto weiter, seien in einem zweiten Schritt die übrigen Kriterien einzubeziehen. Sie dienten nach der Bewertung mit den beiden Leistungskriterien sozusagen als Korrektiv.
Ausschlaggebend für das Kriterium ‚Bedeutung’ sei, welche Bedeutung die Angelegenheit subjektiv für den Auftraggeber habe. Diese sei z.B. dann überdurchschnittlich, wenn der Auftrag des Anwalts zunächst nur einen Teil der Ansprüche des Mandanten betrifft, das Ergebnis der anwaltlichen Tätigkeit aber für die weitergehenden Ansprüche zumindest von präjudizieller Bedeutung ist. Das dürfte insbesondere im Bereich des Personenschadenrechtes gelten, zumindest dann, wenn die gesundheitliche Entwicklung noch nicht absehbar ist.
Bei dem Kriterium der Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Auftraggebers könne als Ausgangsgröße ein durchschnittliches Bruttoeinkommen von monatlich 2.000,- Euro je Person angenommen werden. Schließlich kann bei Gebührensatzrahmengebühren wie bereits ausgeführt ein Haftungsrisiko des Rechtsanwaltes herangezogen werden.
Wendet man die vorstehend dargestellten Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, so muß man auch in Unkenntnis der Details in der Sache zu dem unzweifelhaften Ergebnis kommen, dass hier für die außergerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwaltes eine 1,3 Geschäftsgebühr deutlich untersetzt ist.
Die Schwierigkeit und der Umfang der vorliegenden Sache dürften unzweifelhaft überdurchschnittlich sein. Möge die haftungsbegründende Kausalität vorliegend geklärt sein (was wir mangels Detailkenntnissen nicht wissen), so werden zumindest die Fragen zur haftungsausfüllenden Kausalität nicht ohne weiteres problemlos zu klären gewesen sein. Es handelt sich hier um einen Verkehrsunfall mit Personenschaden und einem Streitwert von über 80.000,- Euro, mithin mehr als 10 mal höher, als der errechnete ‚Durchschnittsstreitwert’ von 6.000,- Euro.
Wer schon einmal in seinem anwaltlichen Berufsleben ein derartiges Mandat bearbeitet hat, weiss, dass dieses nicht mit nur 3 Stunden anwaltlicher Tätigkeit abgewickelt werden kann. Die Bearbeitung wird sich in der Regel über Monate, wenn nicht sogar Jahre hinzuziehen.
Die im Verkehrsrecht zu klärenden Rechtsfragen waren es übrigens, die den Gesetzgeber vor Jahren dazu veranlasst haben, den ‚Fachanwalt für Verkehrsrecht’ einzuführen.
Auch Spezialkenntnisse des Rechtsanwaltes lagen laut Urteilsbegründung vor. Ein inhaltliches Eingehen auf die Aussage des Gerichtes, dass Fachwissen eine schnellere effektivere Bearbeitung der Materie ermögliche und zudem das Haftungsrisiko verringere, verbietet sich geradezu, soll das ja nichts anderes bedeuten, als dass Fachanwälte, die durch einen Lehrgang von 120 Stunden, Fall-Listen-Erstellungen und mehrerer bestandener Klausuren, dafür gegenüber dem unbedarften Rechtsanwalt abgestraft würden, dass Sie sich den Fachanwalts-Titel erworben haben.
Ein Verkehrsunfall mit schwerer Gesundheitsschädigung ist für den Betroffenen von erheblicher, wenn nicht sogar existenzieller Bedeutung.
Das Haftungsrisiko des Anwaltes liegt im deutlich fünfstelligen Eurobereich, ist also ebenso überdurchschnittlich.
Zusammenfassend steht demnach fest, dass zumindest einer (wir gehen indes von wohl allen aus) der Bemessungskriterien des § 14 I RVG deutlich überschritten worden ist, mit der Folge, dass dem bearbeitenden Rechtsanwalt selbstverständlich eine höhere, als die durchschnittliche Gebühr von 1,3 RVG zuzubilligen ist. Nimmt man dann noch die erwähnte Toleranzgrenze von 20 % – 30 % hinzu, ist die Entscheidung noch weniger nachvollziehbar.
Wenn der Durchschnittsanwalt (statistisch durch die BRAK belegt) monatlich Durchschnittseinkünfte von unter 2.000,- Euro, erzielt, brutto versteht sich, dann braucht sich hierüber keiner zu wundern bei Rechtsprechungen, die normierte Gebührentatbestände auszuhebeln versuchen.
Entweder, um es mit den Worten eines bekannten deutschen Pop-Musikers auszudrücken: „das Gericht hatte offensichtlich vom anwaltlichen Gebührenrecht ebenso wenig Ahnung, wie eine Kellerassel von Chanel-Düften, oder wäre es andererseits nicht angebracht, der entscheidenden Zivilkammer einmal die Anregung zu geben, ihre Richterbezüge zu halbieren, da dort offenbar Spezialkenntnisse vorliegen, die zu einer schnelleren und effektiveren Aktenbearbeitung führen und das Risiko eines Amtshaftungsanspruches verringern?
Am besten, wir nehmen die Entscheidung mit dem nötigen Humor einfach so hin und geben der klagenden Partei mit auf den Weg, das nächste Mal, wenn möglich, einen anderen Gerichtsstand auszusuchen, mit dem zitierten Zusatz des Düsseldorfer Kollegen: ‚Kölle Alaaf’, eben.
Der Autor Dr. Dirk Christoph Ciper, Fachanwalt für Medizinrecht, ist seit 1995 zivil- und wirtschaftsrechtlich mit einem Tätigkeitsschwerpunkt auf dem Gebiet des Arzthaftungsrechtes tätig. Er ist u.a. Geschäftsführer der ‚Europäischen Anwaltskooperation’ (EAK) – EWIV und Mitgeschäftsführer des ‚Institutes für die Begutachtung ärztlicher Behandlungen’ GbR. Die Sozietät Ciper & Coll. ist bundesweit gegenwärtig an 12 Kanzleistandorten tätig, darüber hinaus ist der Autor auch am ‚Barreau de Paris’ (Rechtsanwaltskammer von Paris) sowie dem ‚Ordine degli Avvocati’ di Roma (Rechtsanwaltskammer von Rom) eingeschrieben. Vor und noch zu Anfang seiner anwaltlichen Tätigkeit war er 15 Jahre lang für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) als ‚Fester Freier Mitarbeiter’ tätig und hat in dieser Zeit etwa 900 Hörfunk und TV-Beiträge für alle ARD-Sendeanstalten produziert.